Requiem für einen jungen Dichter – ein Lingual
November 8, 2024Im Wikipedia gibt es für Lingual nur die Erläuterung ‚ein mit der Zunge gebildeter Laut‘. Derer waren es viele an diesem Abend. Der Begriff beschreibt aber auch nur unzutreffend das, was passierte. Es war phonetisch, akustisch und visuell eine Überforderung. Insbesondere die Eindrücke für das Auge waren eine Herausforderung. Zunächst begann alles gut aufnehmbar, weil es regnet … auf der Bühne. Auf die fallenden Tropfen werden Texte projeziert, die zum Gehörten passen.
Auf der Bühne sind mehrere Gerüste, unter und auf denen sich die Akteure bewegen oder sitzen … in individuellen bunten farbenfrohen Kostümen. Im ansonsten düster Gehaltenen gibt es kleine Lichtinseln. In einer bewegt sich eine einsame Frau und in der anderen ein Vater mit seinen Töchtern, oder ist es der Großvater? Etwas später erscheint derselbe Herr mit einem der Mädchen auf dem Rücken auf einer Etage der Bühne und erläutert, wie das sozialistische System an die Stelle des kapitalistischen System treten wird und überhaupt ein neues gesellschaftliches System entsteht. Dieser Satz aus dem Kapital von Marx ist nur ein Zitat unter vielen, die ertönen. Darüber nachzudenken bleibt keine Zeit zumal die visuellen Eindrücke immer dichter werden. In mehreren Schichten werden historische Szenen und bekannte (Un)Persönlichkeiten übereinander geblendet, dahinter und davor bewegen sich die Chöre, Sprachfetzen fliegen durch die Luft zu der aufpeitschenden Musik.
Alles endet mit einer Szene, über der kopfüber ein Blondschopf schwebt, aufgehängt an seinen Beinen mehrere Minuten lang und ich denke mir „hoffentlich ist das eine Puppe“. Aber nein, er ist einer der vielen, die den langen Beifall vom Publikum bekommen. Diesen aber erst nachdem der zweite Teil der Aufführung endet ‚Rothko Chapel‘ von Morton Feldmann. Ein völliger Kontrast. Auf der Bühne ’nur‘ ein Rechteck aus Leuchtstoffröhren und die Musik ertönt von der Empore. Wunderschöne Musik zu einer unbequemen Sitzhaltung des Zuhörers, wenn er die Sänger und Teile des Orchesters auch sehen möchte.
Ich gehe etwas sprachlos mit meinem Freund aus dem großen Haus der Staatstheaters. „Das braucht etwas Zeit“, denke ich mir und jetzt finde ich es toll, dass ich dabei war. So eine Darbietung gibt es sicher nicht allzu oft.